Entnommen aus Kapitel 6 ("Das Buch") © 2011 by Isabelle Cullen
Der Reinblüter
KAPITEL I. - Der gefährlichste Vampir
Der Reinblüter gilt nicht umsonst als eine der seltensten und schrecklichsten Vampirmythen. Ich würde sogar behaupten, mir selbst sei noch nie eine schreckensverheißendere Geschichte zu Ohren gekommen, als die des Reinblüters.
Es dauerte lange, bis ich auf meinen Reisen auf Menschen traf, die mir etwas über ihn erzählen konnten. Tatsächlich musste ich bis nach Rumänien reisen, bis jemand auch nur etwas mit dem Begriff „Reinblüter“ im Bezug auf Vampire anfangen konnte. Dieser Jemand war die Stammesälteste eines Urvolkes, das sich im Norden von Bulgarien angesiedelt hatte. Sie wusste viel über den typischen Vampir, doch nicht minder etwas über das Objekt meiner Wissensbegierde. So brauchte sie mehrere Tage, um mir alles zu erzählen, was in ihren alten Legenden über den Reinblüter berichtet wurde.
Die folgende Beschreibung des Reinblüters basiert nur auf den alten Erzählungen. Weder ihre Richtigkeit noch die tatsächliche Existenz des Reinblüters wird garantiert.
Der Reinblüter ist in vielen Sinnen ein normaler Vampir, doch auch viele Dinge unterscheiden ihn von der typischen Art, nicht zuletzt seine Stärke und Macht.

Vom Äußeren her ist er – ebenso wie der Durchschnittsvampir – übernatürlich schön. Sollte einem ein Vampir schon mit seiner Schönheit den Atem rauben, berichtete die Stammesälteste mir, so war dies nichts gegen den Reinblüter.
Auch wie bei den Vampiren sieht man beim Reinblüter keine besonderen, oft in Filmen oder Schauspielen verwendeten Vampirzähne, die darauf hinweisen könnten, was er ist. Er trinkt Blut, doch sein Durst lässt sich leichter beherrschen als der von Normalvampiren, so wie der Reinblüter im Allgemeinen alles beherrscht. Nicht nur schöner als der normale Vampir ist er, er ist, so sagt man, auch noch über hundertmal schneller und stärker. Könne ein normaler Vampir einen Lastwagen oder gar ein Haus in die Höhe stemmen, so könne der Reinblüter einen beachtlichen Teil Rumäniens allein auf seinem kleinen Finger balancieren, zumindest verglichen das genauso die Urvölker.
Gegen ihn habe bei einer Verfolgung oder einem Rennen niemand auf der ganzen Welt eine Chance.
In Italien hörte ich damals, dass Vampire bestimmte Gaben besaßen, jeder für sich. Hierbei handele es sich um mentale Kräfte, die mehr in psychische als in physische Richtung gingen, dies könne jedoch auch vorkommen. Auch dies wurde im Bezug auf den Reinblüter erwähnt. Ich erschrak, als man mir erzählte, dass, egal welche Gabe die verschiedensten Vampire auf der Welt besäßen, der Reinblüter jede einzelne davon beherrschen und bekämpfen konnte, als einzigstes Wesen auf dem Planeten. Und mit dieser Eröffnung begann sich in meinem Kopf alles zusammenzufügen. Mich traf die Erkenntnis, dass der Reinblüter, sollte es ihn wirklich geben, die gefährlichste Existenz auf dieser Welt ist. Nichts auf der Welt ist ihm ebenbürtig, kein einziges Wesen könnte ihn jemals besiegen.
KAPITEL II. - Der Ursprung
Auch wenn es so scheint, der Reinblüter ist keineswegs von Anfang an ein Vampir. Es ist nicht einmal die Frage geklärt, ob er überhaupt schon „geboren“ wurde. Was mir meine Quellen über seinen Ursprung verrieten, werde ich nun hier niederschreiben.
Von Geburt an ist der Reinblüter kein Vampir, woher wohl auch der Name Reinblüter kommt – da Vampire laut den Erzählungen keinen Tropfen Blut in ihrem Kreislauf besitzen. Nein, ganz im Gegenteil. Der Reinblüter wird als Mensch geboren und wächst normal auf, ohne Anzeichen, dass er anders sein könnte, wie die Menschen in seinem Umfeld.
Der Reinblüter kann weder in seiner menschlichen, noch in seiner Reinblütergestalt von anderen Wesen als solcher erkannt werden. Dies führt dazu, dass es mehr als unklar ist, wann er geboren wurde, ob er geboren wurde oder ob es noch ein paar Jahrtausende dauert, bis er die Erde besiedelt, obwohl Mythologen annehmen, dass es ihn seit Urzeiten gibt. Andersherum könnte es auch sein, dass er schon in der Steinzeit das Licht der Welt erblickt hat oder verkleidet als Politiker den dritten Weltkrieg verursachen könnte. Dies klingt lächerlich, könnte aber bittere Wahrheit sein. Man kann sich im Bezug auf den Reinblüter niemals sicher sein, dies habe ich bei allen Erzählungen gelernt. Alles ist ungewiss, was auch einen großen Teil der Gefahr ausmacht, die er darstellt.
Der Reinblüter lebt ein ganz normales (Menschen-)Leben bis zu dem Akt der „Geburt“ oder „Umwandlung“, die an einem unbestimmten Zeitpunkt stattfindet. Der Akt beginnt damit, dass sich bei der Person die ersten der unzähligen Gaben bemerkbar machen. Plötzlich kann er, obwohl noch in menschlicher Gestalt, so schnell rennen wie ein Vampir oder mit seinen Gedanken Menschen manipulieren. Nach diesen ersten Erscheinungen beginnt die eigentliche Verwandlung.
Ich hatte zuvor erwähnt, dass der als Mensch geborene Reinblüter Blut im Kreislauf besitzt, anders, wie gewöhnliche Vampire. Hierbei handele es sich um spezielles Blut, das von vielen, die die Sagen um ihn kennen, auch „reines“ Blut genannt wird – hierbei wird auf den hohen Rang und die Macht angespielt, die der Reinblüter besitzt. Von dieser Bezeichnung kommt letztendlich auch der Name.
Bei dem „reinen“ Blut handelt es sich um eine Substanz, die sich bei der „Umwandlung“ vollständig aus den Adern auflöst und mit einer enthaltenen Betäubungsflüssigkeit, die sich seit Jahren im Gehirn festgesetzt hat, den Reinblüter keine Schmerzen spüren lässt, während er die als schmerzhaft beschriebene Verwandlung durchläuft. Nach dieser Art Narkose wacht er auf und befindet sich in seinem neuen Zustand.
Dadurch, dass ich dies alles in so einer Detailliertheit erfahren habe, ziehe ich (wenn auch recht voreilig, das ist mir bewusst – der Leser mag es mir verzeihen) den Schluss, dass der Reinblüter schon längere Jahre auf diesem Planeten lebt und die Verwandlung schon durchlaufen hat. Woher kämen sonst solche Informationen, wenn nicht von Informanten, die es mitverfolgt haben? Doch auf diese Spekulationen werde ich nicht weiter eingehen.
Doch woher kommt der Reinblüter? Wie kam er überhaupt auf diese Welt?
Das Urvolk, dass mir Antworten auf vorherige Fragen gab, konnte mir dies nicht beantworten. Also reiste ich weiter. Ich brauchte fast ein Jahr, bis ich wieder auf Antworten stieß, diesmal kamen sie von einer alten Frau namens Karzah. Ihr verstorbener Vater hatte ihr viele Legenden erzählt und eine, an die sie sich besonders gut erinnern konnte, war die des Urvampirs.
Der Urvampir ist der erste Vampir, den es je gegeben hatte. Er ist das Urbild aller Mythen und wahrscheinlich das einzige Wesen, das mächtiger ist als der Reinblüter, auch wenn er sich laut der Erzählung niemals irgendwo blicken ließ oder auch nur mit einem einzigen Zeichen seine Existenz bewies.
Er schuf andere, normale Vampire, indem er normale Sterbliche mit einem Biss verwandelte. So wurde ein Teil seiner Selbst auf den Menschen kopiert – also eine der unzähligen Gaben, ein Bruchteil seiner unglaublichen Stärke und Schnelle und eine ähnlich übermenschliche Schönheit, wie er sie besaß.
Doch eines Tages, so erzählte Karzah, wollte er ein Mädchen verwandeln, dass jedoch so bitterlich weinte, dass es sein Mitleid erregte – und ehe sich der Urvampir versah, verliebte er sich in dieses zerbrechliche, traurige, sterbliche Ding. Aus Angst vor dem drohenden Tod gab sich das Mädchen dem Urvampir hin – und so entstand durch sie beide der Reinblüter in ihr, der zu einem Großteil die Gene seines mächtigen Vaters, zu einem Bruchteil jedoch auch die Gene einer Normalsterblichen erhielt. Karzah erwähnte, dass die Schwangerschaft mit einem Kind, das Unsterblichkeit erlangen sollte, wohl kaum auf neun Monate begrenzt wäre. Es könnte sogar sein, dass das arme Mädchen noch heute, tausende Jahre nachdem diese Legende zum ersten Mal auftauchte, dieses Kind in ihrem Bauch tragen könnte.
Wäre einmal der Fall, dass ein „normaler“ Vampir und ein Mensch ein Kind zeugen würden, so wäre es dennoch kein Reinblüter. Denn der Vater wäre nicht der Urvampir.
Nur der Nachkomme des Urvampirs ist der Reinblüter.
Und niemand weiß, wann diese Kreatur unter den Menschen wüten wird.
Niemand weiß, wie sich seine Macht auf dieser Welt auswirken wird. Aber eines ist sicher: Sollte sich der Reinblüter diese Welt zum Feind machen, so gibt es kein Entrinnen.